Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann
So sollte es (nicht) sein
Eltern handeln zum Wohle ihrer Kinder. Familie bietet Schutz. Diese vermeintlichen Selbstverständlichkeiten tastete der 1944 geborene Schriftsteller Richard Ford in seinem Roman Wildlife an – um sie gehörig zu ramponieren. Der Schauspieler Paul Dano (Jahrgang 1984), der aus dem Rollenfach des jungen Schmerzensmannes bereits eine beachtliche Leinwand-Karriere machen konnte, hat das 1990 veröffentlichte Werk gemeinsam mit seiner Schauspiel-Kollegin und Lebensgefährtin Zoe Kazan adaptiert und legt nun mit „Wildlife“ sein Regiedebüt vor.
Im Zentrum der Geschichte steht der adoleszente Joe Brinson (Ed Oxenbould), der mit seinem Vater Jerry (Jake Gyllenhaal) und seiner Mutter Jeanette (Carey Mulligan) im Jahre 1960 in der Kleinstadt Great Falls im US-Bundesstaat Montana lebt. Die Brinsons haben schon mehrere Umzüge hinter sich, da sich Jerry immer wieder um eine neue Anstellung bemühen muss. Als er auch seinen Job in einem privaten Golfclub verliert, fühlt er sich so sehr in seiner Ehre gekränkt, dass er sich weigert, eine kurze Zeit später erfolgende Rücknahme der Kündigung zu akzeptieren. Während Jeanette einen Teilzeitjob als Schwimmlehrerin annimmt, bleibt Jerry zunächst erwerbslos – bis er sich als Tagelöhner meldet, um die Waldbrände in der Umgebung zu bekämpfen, und dafür vorübergehend die Familie verlassen muss. In Jerrys Abwesenheit lernt Jeanette den älteren, wohlhabenden Warren Miller (Bill Camp) kennen – und Joe fürchtet den Zusammenbruch seines Zuhauses.
In vieler Hinsicht ist Wildlife eine eindrückliche audiovisuelle Erfahrung. Zusammen mit seinem Design-Team erweckt Dano die ausklingenden 1950er Jahre zum Leben, ohne dass seine Arbeit je wie ein harmlos-hübsches Ausstattungsstück anmutet: Das Häuschen in der Vorstadt, die tapezierten Innenräume, der Esstisch, das Fernsehgerät, der Klassensaal, die Regale mit den aufgereihten Konservendosen im Supermarkt – all das hat nichts von sterilen Kulissen und Requisiten, sondern wirkt wie die Summe, aus der sich der Alltag der Figuren glaubhaft zusammensetzt. Wir erleben dieses Dasein aus der Sicht von Joe, der ein sensibler, harmoniebedürftiger Mensch ist. Zu Beginn sieht er nur das Glück und die Liebe zwischen seinen Eltern – nicht die brüchige Beschaffenheit des Idylls. Erst allmählich schleicht sich das Unbehagen ein; die Irritationen in der Familiendynamik werden von Szene zu Szene spürbarer. Wenn der Satz „Du musst dir keine Sorgen machen“ fällt, ist es längst zu spät. Ein vielsagender Blick, ein schiefes Lächeln, eine spitze Bemerkung – so werden die Risse immer deutlicher, bis sich die Spannung und der rasche Niedergang endgültig nicht mehr leugnen lassen.
Mit großem Einfühlungsvermögen, das an die besten Melodramen der Classical-Hollywood-Phase erinnert und doch etwas Zeitloses hat, widmet sich Wildlife der tragischen Lage eines Kindes, das als Dritter in einem Ehe-Konflikt zerrieben zu werden droht, da es sich sowohl der Mutter als auch dem Vater innig verbunden fühlt. Joe will nicht Partei für eine Seite ergreifen – und ist den Launen beider Elternteile völlig ausgeliefert. „So sollte es sein“, sagt Jerry an einer Stelle zu seinem Sohn, als er diesem ein bisschen Geld gibt; aber schon bald ist hier nichts mehr so, wie es sein sollte. Joe muss sich Kommentare anhören, die er nicht hören sollte („Wir waren lange nicht mehr intim“, verrät Jeanette dem verstörten Teenager, als sei er ihr guter Kumpel); er muss Dinge mit ansehen, die er nicht sehen sollte. Der Jugendliche wird zu einem Zeugen von Fehlentscheidungen und Fehltritten seiner zwei Autoritätspersonen, zu einem unfreiwilligen Partner für Gespräche, die kein Kind mit seinen Eltern führen sollte. Wenn Joe erkennen muss, wie egoistisch und peinlich Jerry und Jeanette sein können, wenn er das natürliche Vertrauen zu den beiden verliert, geschieht das mit einer ungeheuren Wucht. Stets zeigen Dano und sein Kameramann Diego García dabei zuerst die Reaktion von Joe – und dann den Anlass für dessen Gefühle.
Dano erweist sich nicht zuletzt als Könner in Sachen Schauspielführung. Ed Oxenbould, der es bereits in M. Night Shyamalans The Visit (2015) mit unberechenbaren Erwachsenen zu tun bekam, verkörpert perfekt die Unschuld und die Passivität von Joe. Und Carey Mulligan vermag in einem Moment wie eine unbeschwerte junge Frau daherzukommen, um schon im nächsten schmerzlich sichtbar zu machen, wie die Scherben zerbrochener Träume einen verbitterten Ausdruck in Jeanettes Gesicht geritzt haben. Dazu bedarf es keinerlei Make-up-Effekte – sondern einfach nur sehr viel Talent, über das Wildlife vor und hinter der Kamera reichlich verfügt.
Eine Kleinstadt in Montana in den 1960er Jahren: Der 14-jährige Joe ist das einzige Kind von Jeanette und Jerry. Als in der Nähe ein gewaltiger Waldbrand ausbricht und sein Vater seinen Job verliert, bricht dieser auf, um als Freiwilliger gegen das Feuer anzukämpfen. Urplötzlich ist Joe gefordert und muss mit ansehen, wie seine Mutter mühsam um Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung ringt.